Es geht um mehr als nur technischen Fortschritt und komplexe Organisation – vor uns liegt eine ambitionierte Kulturleistung
[GTIV, 17.02.2015] Folgt man der aktuellen Diskussion zur „Industrie 4.0“, so steht die Befürchtung im Raum, dass diese zu einem bloßen Modebegriff verkommen könnte und Deutschlands Mittelstand mit deren Herausforderungen alleingelassen sowie das Setzen von wegweisenden Standards versäumt wird. Viel zu oft wird dieses Thema entweder rein technokratisch und -verliebt geführt, quasi als Selbstzweck, oder aber fatalistisch ignoriert, als könnte vergangene Wirtschaftswunderherrlichkeit Deutschlands Position auch im 21. Jahrhundert in der Welt auf Dauer sichern.
Die zunehmende Digitalisierung im Umfeld der kompletten industriellen Wertschöpfungskette und die Perspektive des „Internet der Dinge“, ob man diese Trends nun prägnant „Industrie 4.0“ nennt oder nicht, seien mehr als technischer Fortschritt und komplexere Organisation, betont Dipl.-Ing. (TU) Carsten J. Pinnow, Gründungspartner des Clusters Industrie 4.0 (CI4) in Berlin, – es gehe um eine epochale Kulturleistung zum Nutzen und zur Teilhabe der Menschen. Das CI4 sieht laut Pinnow mindestens zehn Aufgabengebiete als erfolgsentscheidend an:
- Bildung
Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), zumal im Verbund mit Produktionseinrichtungen, kann nur dann ein wertschöpfendes Werkzeug werden, wenn sie von geübten Händen mit klugen Köpfen geplant, errichtet, betrieben und gewartet wird.
Mehr denn je werden Menschen zur Teilhabe und Nutzung der Chancen eine gute Grundausbildung und adäquates Spezialwissen oder generalistische Fähigkeiten benötigen. - Informatik
Im Grunde werden möglichst schon gestern Tausende von „Informatik-Ingenieuren“ benötigt, die zunächst produktneutral Prozesse methodisch analysieren, logisch konsistente Sollkonzepte für Programmierungen entwickeln und diese auch nachvollziehbar dokumentieren.
Wenn dann noch „Hacker“-Kenntnisse dazukommen, um Software insbesondere für risikoreiche Anwendungen einem Stresstest zu unterziehen, wäre weniger „Bananaware“ im Umlauf (die erst beim Kunden reift). - Infrastruktur
Um bundesweit den Mittelstand einzubeziehen, bedarf es nicht nur einer zukunftsweisenden breitbandigen Anbindung auch der Fläche: Zudem werden passable Verkehrswege und eine zuverlässige Energieversorgung benötigt sowie ein attraktives Umfeld für selbstbewusstes Fachpersonal.
Nicht vergessen: „Industrie 4.0“ soll reale Werte schöpfen, die auch intelligent verteilt und gelagert werden müssen – nicht allein virtuelle Dienste wie etwa Programmierung, Konzepterstellung, mediale Unterstützung, Übersetzungen o.ä. - Kommunikation
Wenn sich nicht nur verschiedene Niederlassungen eines Unternehmens, sondern ganze mittelständische Unternehmen zu virtuellen Arbeitsgruppen oder gar Konzernen verbünden und vernetzen, ob temporär oder dauerhaft, ist die technische Vernetzung nur ein Aspekt von vielen. Diese kann nicht losgelöst von der in den einzelnen Betrieben eingeübten Umgangssprache, Firmenkultur bzw. Unternehmensphilosophie behandelt werden.
Nicht nur die Technik und die Organisation gilt es zu vernetzen, sondern auch Menschen mit ihrem kulturellen und sozialen Hintergrund. Die Netzwerkpartner müssen zusammen eine neue Einheit bilden, aber dennoch ihre Eigenständigkeit und Identität bewahren können. - Logistik
In der Logistikbranche ist die Digitalisierung und Automatisierung schon sehr weit fortgeschritten – aus ihr lassen sich Erkenntnisse für die Kennzeichnung, Lagerung, Verbringung und Verteilung von Gütern auch innerhalb eines mittelständischen Netzwerks ableiten.
Dabei sollte nicht die Kostenreduktion, sondern die dauerhafte Verfügbarkeit von Halbzeugen, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen etc. im Fokus stehen. - Mittelstand
Für den Standort Deutschland ist es überlebenswichtig, jenen Unternehmen die erfolgreiche Nutzung der „Industrie 4.0“ zu ermöglichen, welche nicht auf Quartalszahlen schielen und morgen ins Ausland abwandern, sondern dauerhaft an ihrem Standort innovativ produzieren, Arbeit geben, ausbilden, Steuern zahlen und in ihrer Region sinnstiftend wirken.
Nachhaltige Wertschöpfung ist eine kulturelle Leistung, die nicht an jedem beliebigen Ort in gleicher Art, Menge und Güte erbracht werden kann. - Moderation
Die Etablierung mittelständischer Wertschöpfungsverbünde im Kontext der „Industrie 4.0“ wird von den Beteiligten allein nicht neben den betrieblichen Alltagsverpflichtungen zu bewältigen sein – gerade nicht von Betrieben, in denen die Entscheiderebene selbst noch Hand anlegt.Hierzu sind Kammern, Verbände und Unternehmensberater gefragt, moderierend einzugreifen, Projektunterstützung anzubieten und auch neutrale Clearing-Stellen aufzubauen, um die Angst vor Vereinnahmung zu nehmen. - Ordnungspolitik
Die zunehmende Integration auf EU-Ebene wie auch die Globalisierung haben dem Mittelstand schon viele kräftezehrende, Ressourcen vernichtende Zumutungen gebracht.
Um „Industrie 4.0“ im Interesse der deutschen Volkswirtschaft zum Erfolg zu führen, muss sich der Staat, der Bund, die Länder und die Kommunen, auf eine faire Marktverhältnisse fördernde Ordnungspolitik kaprizieren, Bürokratie abbauen und attraktive Steuerregelungen für mittelständische Unternehmensverbünde schaffen. - Sicherheit
Zuverlässigkeit im Betriebsalltag und Stabilität im Störfall – so die Anforderung nach einem Höchstmaß an Sicherheit der „Industrie 4.0“ und ihrer Systemkomponenten. Naturgemäß kommt dabei der Datensicherheit größte Bedeutung zu, denn schon die Datenebene muss sicher sein, um Automatisierung zur Produktion und eben nicht zur Destruktion einzusetzen.
Wesentliche Kriterien der Daten- bzw. IKT-Sicherheit sind die Integrität (Schutz vor Missbrauch und Verfälschung), Vertraulichkeit (Datenschutz für personenbezogene Daten, aber auch Geheimhaltung von Konstruktions- und Prozessdaten gegenüber Dritten) und nicht zuletzt, sondern zuerst, die Verfügbarkeit geeigneter IKT (Hard-, Soft- und Orgware) sowie motivierten Personals und moderner Infrastruktur (s.o.). - Standards
Normen sind volkswirtschaftliches Anlagevermögen, welches es zu aktivieren gilt. Der Wettbewerb auf dem Gebiet der Standardisierung als strategisches Instrument wird an Heftigkeit gewinnen. Das Setzen von Standards darf nicht allein Monopolen bzw. Oligopolen überlassen werden.
Um den deutschen Mittelstand in die Lage zu versetzen sich erfolgreich zu vernetzen, bedarf es anerkannter Normen, die den Stand der Technik definieren und unnötige Parallelentwicklungen und Ressourcenbindung verhindern helfen.Standards und Normen seien als Basis für individuelle Vernetzungsstrategien in Verbünden erforderlich. Aufgrund der heterogenen Struktur des Mittelstands ist es aber laut Pinnow unwahrscheinlich, dass eine einzige Standard-Strategie von allen Mittelstandsunternehmen in gleicher Weise adaptierbar ist. Für diese seien praxisbezogene Problemlösungen zur teilweisen oder vollumfänglichen Digitalisierung der Wertschöpfungsketten gefragt, die sich an der jeweiligen Firmenkultur, dem Automatisierungsgrad, der Unternehmensgröße und -branche und nicht zuletzt am vorhandenen Budget des Unternehmens orientierten.
Das Cluster Industrie 4.0 in Berlin möchte sich mit Informationsveranstaltungen, Schulungen, Projekten und Publikationen u.a. den aufgeführten zehn Schwerpunkten widmen und insbesondere die Relevanz und den Nutzen für den Mittelstand hervorheben.
Carsten J. Pinnow, Herausgeber von „datensicherheit.de“, ist geschäftsführender Gesellschafter der PINNOW & Partner Unternehmens- und Technologieberatungsges. mbH in Berlin. Er engagiert sich u.a. als Generalsekretär in der Gesellschaft für Transfer immateriellen Vermögens e.V. (GTIV) mit dem Schwerpunkt Wissenstransfer und -konversion zu Gunsten der mittelständischen Wertschöpfung in Wirtschaft und Wissenschaft am Standort Deutschland sowie als stellv. Leiter des Arbeitskreises Sicherheit im VDI BV Berlin-Brandenburg für ganzheitliche Sicherheitsfragen im Interesse von Volkswirtschaften, Unternehmen, Institutionen und Bürgern.
Carsten J. Pinnow: „Industrie 4.0 ist eine kulturelle Herausforderung!“