Erhard Nullmeier: „Unter dem Pflaster liegt der Strand“
[CI4, 08.02.2016] Zum Auftakt des neuen CI4-Veranstaltungsjahres 2016 gab Erhard Nullmeier, Professor i.R. der HTW Berlin, im Rahmen seines Impulsvortrages „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ einen Abriss über das thematische Spannungsfeld der „Industrie 4.0″ und zeigte den Cluster-Akteuren und -Freunden nochmals die Vielfalt des Aufgabengebietes auf.
Auf der Suche nach dem Revolutionären
„Industrie 4.0″ sei ja eine Kurzform des Begriffs „4. Industrielle Revolution“ – mit dem Titel seiner Ansprache solle angedeutet werden, dass durch Revolution Erstrebenswertes, etwa ein Strand, erhofft werde, dieses Ziel aber nur mit Mühen, also z.B. durch das Wegräumen der Pflastersteine, erreicht werden könne, erläuterte der neue CI4-Akteur.
In den meisten Revolutionen seien Pflastersteine als Waffe benutzt worden, um die Revolution voranzutreiben – mit der Industrie 4.0 sei es indes ganz anders, denn diese vermeintliche Revolution werde lange angekündigt, die Regierung stelle gar Fördergelder für diese bereit… Nullmeier warf daher die Frage auf, ob es sich vielleicht um gar keine Revolution handelt. Revolutionen sein ja laut J. Schumpeter „disruptiv“, d.h. Altes müsse zerstört werden, um Neues aufzubauen. Nullmeier: „Ist das hier der Fall?“
Neuer CI4-Akteur im Un-Ruhestand
Erstaunlich sei, dass gerade jemand im Ruhestand zu diesem Neujahrstreffen einen Impuls geben solle – „i.R.“ stehe ja nicht für „in Revolution“, sondern „im Ruhestand“. Aber einerseits lägen bei Älteren am ehesten „Revolutionserfahrungen“ vor. Nullmeier: „Keine Angst, es soll hier nur um die Einführung der NC-Technik und der CAx-Techniken gehen!“ Andererseits hätten sie an der HTW, z.B. in Bachelor-Arbeiten, die ja durch Jüngere bearbeitet würden, Chancen und Risiken der Einführung von Industrie 4.0 untersuchen lassen; leider würden diese Arbeiten durch die beteiligten Unternehmen fast immer gesperrt.
Charakteristika von Industrie 4.0
Nach seinen einführenden Worten widmete sich Nullmeier kurz einigen Charakteristika der Industrie 4.0:
- Digitalisierung der Produktions- und Logistikprozesse
- weltweite Vernetzung aller Dinge („Internet der Dinge“)
- „intelligente“ Dinge (Maschinen, Transportmittel, …)
- Nutzung großer Datenmengen („Big Data“)
Darüber soll laut Nullmeier auch erreicht werden, dass Deutschland als Industriestandort wieder konkurrenzfähig gegenüber Niedriglohnländern wird und Produktion zurückgeholt werden kann. Einerseits sollten durch die Digitalisierung Arbeitsplätze „eingespart“ werden, andererseits neue geschaffen werden – durch das schon erwähnte Zurückholen von Produktion als auch durch den Export hochautomatisierter Produktionsprozesse gemäß Industrie 4.0.
Handwerker und KMU als Mitwirkende
Nullmeier erörterte die Frage, warum Handwerker oder kleine bzw. mittelständische Unternehmen (KMU) überhaupt mitmachen sollten: „Haben wir Zeit, Geld, personelle Kapazitäten, Ressourcen dafür?“ Überhaupt müssten die Vorteile und der Nutzen für sie diskutiert werden.
Sodann skizzierte er drei Visionen, die für deren Mitwirkung sprechen:
- Konzeption für variantenreiche Produktion.
- Schlagwort „Stückzahl 1 mit Methoden der Massenproduktion“ – das ureigene KMU-Geschäftsmodell.
- Wie sich in aktuellen Bachelor-Arbeiten gezeigt habe, bestehe – gerade in Brandenburg, vielleicht weniger in Berlin – eine Unterversorgung mit qualifizierten Arbeitskräften, so dass die technischen Möglichkeiten, davon unabhängig zu werden, auch wichtig sein könnten.
Wohl gebe es den Einwand „Das brauchen wir alles nicht – solange die Konkurrenten das nicht nutzen…“ Aber das werden die tun, stellte Nullmeier klar. Auch wenn der Nutzen erst in vielleicht mehreren Jahren eintrete, sollten wir vorbereitet sein.
Analogie zur NC-Einführung um 1970
Die erste Folgerung aus dem zuvor Ausgeführten sei: „Weil andere das auch tun, müssen wir uns mit I 4.0 auseinandersetzen; wie soll das aber gehen?“
Nullmeier führte als Beispiel aus der Vergangenheit die NC-Einführung um 1970 an. Damals sei ein Rechner im Werte von etwa einer Million DM notwendig gewesen, die entsprechenden Werkzeugmaschinen hätten etwa das Doppelte der konventionellen gekostet und es habe kaum Programmierer zur Erstellung von NC-Programmen gegeben.
In der Folge seien große Investitionen notwendig gewesen, um überhaupt mal mit NC anzufangen zu können – in allen drei Bereichen. Wirtschaftliche Erfolge hätten sich erst nach mehreren Jahren eingestellt. Das habe sich kein KMU und erst recht kein Handwerker leisten können, trotzdem habe es sich – so etwa seit 1985 – durchgesetzt und sei heute „nicht mehr wegzudenken“, so Nullmeier. Ähnlich könne man auch die Einführung der CA-Technologien (CAD, CAP, CAM usw.) beschreiben.
Der Stand der Dinge
Er führte sodann aus, wie es heute mit Industrie 4.0 aussieht:
- Rechnerleistung sei preiswert.
- „Rechner“ seien fast beliebig klein.
- Werkzeugmaschinen und auch Logistik-Systeme (z.B. FTS) könnten lokal, d.h. in einzelnen Bereichen eingeführt werden, wodurch die notwendigen Investitionsmittel sinken würden.
- Die Menschen seien u.a. durch Smartphones mit dem Umgang, der Bedienung, von IT-Systemem vertraut; Schulungen seien eher ergänzend und nicht grundsätzlich neu.
Nullmeiers zweite Folgerung: „Industrie 4.0 ist keine disruptive Revolution; eher eine Fortführung der Automatisierungsbemühungen, die auch in kleinen Schritten realisiert werden kann!“
Aufruf zum Aufbruch
Seine dritte Folgerung war der Appell, anzufangen. Wirtschaftliche Erfolge würden zwar nicht gleich eintreten, aber wir müssten lernen, mit den neuen technischen Möglichkeiten umzugehen; später könne es dafür eben zu spät sein. Da wir vieles auch in kleinen Schritten einführen könnten – entgegen der Parole der „Revolution“ – könne das Lern- und Einführungstempo an unsere individuellen Bedürfnisse angepasst werden.
„Gemeinsam sind wir stark!“, so seine vierte Folgerung, und dies sei nicht nur ein historisches Gewerkschaftsmotto. Wir, d.h. sowohl mehrere KMU als auch die Akteure des Clusters Industrie 4.0, könnten vieles gemeinsam machen, Pilotprojekte durchführen, aus denen wir gemeinsam lernen und die Erkenntnisse auf andere KMU übertragen könnten.
„Fangen wir an!“ solle auch das Motto für 2016 sein, schloss Nullmeier und erhob mit den Teilnehmern sein Glas auf ein erfolgreiches neues Jahr.